leseproben im Picasso-Jahr 2023

Verszeilen aus:

Ulrich Grasnick

DAS ENTFESSELTE AUGE

Hommage à Picasso.

Gedichte, Berlin 1988

Er malt das Paar Er malt mit entfesselten Augen. Er malt das Paar. Er treibt sie mit Strichen aufeinander zu, sie fließen ineinander. Sein Traum arbeitet mit Lippen und Beinen. Er tarnt das Eindeutige mit Schraffuren, Aus dem Schwarz stürzt die Scham nah zum Auge. Sein letzter Strich presst aus ihr die Müdigkeit. Das Papier gebiert kopflose Lust, Lachen und Angst, wenn die kantige Träne aus der Iris splittert.
Ich suchte sein Grab Picasso, sagten sie? Das kann nicht sein, mein Herr, er wird soeben geboren. Ich sah ihn als Seiltänzer, der ohne abzustürzen die weite Strecke zwischen Cranach und einem bretonischen Strohstuhl zurücklegte… Er sagt, alles ist eitel, die Dinge und der Geist. Betrachte wieder und wieder Guernica, denn es scheint, wir vergessen zu schnell Das Bild hat sich in eine Sirene verwandelt. Wie viele Köpfe, wie viele Arme, Hydra der Malerei … Vor meinen Augen Das andere Bild: jenes weite Feld, aus dem Schlaf gepflügt, der über den Acker geht, beschreibt mit langen dunklen Zeilen die Eintracht mit der Erde. Er malt seine eigenen zuschauenden Augen, er malt das Paar. Er treibt sie mit Strichen aufeinander zu, sie fallen mit fließenden Linien ineinander, ein Traum arbeitet mit Lippen und Beinen – erst wenn die Augen begriffen haben und ihre Nachricht ein Wollen in die Stirn treibt, beginnt das nackte Papier zu reizen.
Françoise Zum gleichnamigen Bild von Pablo Picasso (1893-1961), 1949. Öl Picasso erwacht, eilt zu seinem Bild, möchte Francoise umarmen — allein die Farben sind noch zu frisch.
Ankunft von «Guernica» in Madrid 1981 Ich stehe für das Leben, gegen den Tod. Pablo Picasso (1881-1973) Guernica ins Gedächtnis eingeschrieben, als wäre eine Jalousie hochgeschnellt, uns zu bestürzen. Nägel aller Kreuzigungen in dieses Bild geschlagen, Rückkehr des großen Fensters. Blutende Nabelschnur, Sirene, die eine Weltreise zurückgelegt hat, wieder Spanien zu erreichen. Ich habe den Spiegel gesehen, die Folter eines Spiegels, den Blick in die Zeit geblendeter Augen. Die Deckenlampe im Kreißsaal nährt den Strom, der zu reden, zu schreien beginnt: Ich bin der Fluss, der sich weiterwälzt und Bäume mit sich führt, die zu nah an seinen Ufern wuchsen, oder tote Kälber, die man hineingeworfen hat, oder alle möglichen Mikroben, die in ihm gedeihen*. * Pablo Picasso, 1961

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Verszeilen aus: Ulrich Grasnick

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DAS ENTFESSELTE AUGE

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Hommage à Picasso. Gedichte, Berlin 1988

Ich suchte sein Grab Picasso, sagten sie? Das kann nicht sein, mein Herr, er wird soeben geboren. Ich sah ihn als Seiltänzer, der ohne abzustürzen die weite Strecke zwischen Cranach und einem bretonischen Strohstuhl zurücklegte… Er sagt, alles ist eitel, die Dinge und der Geist. Betrachte wieder und wieder Guernica, denn es scheint, wir vergessen zu schnell Das Bild hat sich in eine Sirene verwandelt. Wie viele Köpfe, wie viele Arme, Hydra der Malerei … Vor meinen Augen Das andere Bild: jenes weite Feld, aus dem Schlaf gepflügt, der über den Acker geht, beschreibt mit langen dunklen Zeilen die Eintracht mit der Erde. Er malt seine eigenen zuschauenden Augen, er malt das Paar. Er treibt sie mit Strichen aufeinander zu, sie fallen mit fließenden Linien ineinander, Traum arbeitet mit Lippen und Beinen – erst wenn die Augen begriffen haben und ihre Nachricht ein Wollen in die Stirn treibt, beginnt das nackte Papier zu reizen.
Er malt das Paar Er malt mit entfesselten Augen. Er malt das Paar. Er treibt sie mit Strichen aufeinander zu, sie fließen ineinander. Sein Traum arbeitet mit Lippen und Beinen. Er tarnt das Eindeutige mit Schraffuren, Aus dem Schwarz stürzt die Scham nah zum Auge. Sein letzter Strich presst aus ihr die Müdigkeit. Das Papier gebiert kopflose Lust, Lachen und Angst, wenn die kantige Träne aus der Iris splittert.
Françoise Zum gleichnamigen Bild von Pablo Picasso (1893-1961), 1949. Öl Picasso erwacht, eilt zu seinem Bild, möchte Francoise umarmen — allein die Farben sind noch zu frisch.
Ankunft von «Guernica» in Madrid 1981 Ich stehe für das Leben, gegen den Tod. Pablo Picasso (1881-1973) Guernica ins Gedächtnis eingeschrieben, als wäre eine Jalousie hochgeschnellt, uns zu bestürzen. Nägel aller Kreuzigungen in dieses Bild geschlagen, Rückkehr des großen Fensters. Blutende Nabelschnur, Sirene, die eine Weltreise zurückgelegt hat, wieder Spanien zu erreichen. Ich habe den Spiegel gesehen, die Folter eines Spiegels, den Blick in die Zeit geblendeter Augen. Die Deckenlampe im Kreißsaal nährt den Strom, der zu reden, zu schreien beginnt: Ich bin der Fluss, der sich weiterwälzt und Bäume mit sich führt, die zu nah an seinen Ufern wuchsen, oder tote Kälber, die man hineingeworfen hat, oder alle möglichen Mikroben, die in ihm gedeihen*. * Pablo Picasso, 1961